Page 36 - Preschaint Nummer 5
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                Gottes Nähe
Es ist warm. Die Märzsonne strahlt mit ihrer Kraft auf die Erde und erhellt die Landschaft. Das Val Roseg breitet sich sonnendurchflutet zum Gletscher hin aus. Überall liegt noch Schnee. Doch ein wenig ist der Frühling schon zu erahnen. An einer Futterstelle ma- che ich halt. Was für ein Paradies! Kein Lärm dringt hier an diesen Ort. Vielstimmig zwit- schern die Vögel ihre Hoffnung in die Luft: Haubenmeise, Kohlmeise, Tannenmeise, Kleiber, Buchfink. Ich stelle mich ruhig hin, öffne meine Hand und warte: Ob sich wohl ein Vöglein auf meine Hand setzen wird? Ich bewege mich nicht. Ich will die kleinen We- sen um mich herum nicht verängstigen. In- nerlich bin ich hellwach. Gespannt und auf- merksam beobachte ich das muntere Treiben der kleinen Vögel um mich herum. Ich bin fasziniert. Gleichzeitig spüre ich meine eige- ne Hilflosigkeit. Ich kann nichts machen. Ich kann nur warten und hoffen, dass eine Mei- se den Weg zu meiner Hand findet. Aber ich will hellwach sein, damit ich den Moment nicht verpasse, wenn dies geschieht.
Ein Lied kommt mir in den Sinn. Ich durfte es kennenlernen, auf Wochen der Stille in einer christlichen Gemeinschaft. Innerlich summe ich die Melodie, nur für mich hörbar, mit: Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise, leise, wie einem Vogel die Hand hin- halten.
Gottes Nähe spüren, seine gute Nachbar- schaft in meinem Leben wahrnehmen – die- ses kleine, unscheinbare Erlebnis an einer Futterstelle im Val Roseg wird für mich zum sprechendenBild:Innerlichaufmerksamund hellwach halte ich meine Hand in mein Le- ben hinein und warte, mit was Gott sie fül- len möchte. Ich kann Gottes Nähe in meinem Leben nicht herstellen. Aber ich kann mich innerlich darauf vorbereiten, dass ich ihn nicht verpasse, wenn er sich mir zeigt.
Schliesslich landet ein Vogel auf meiner Hand. Die Zeit steht still. Es ist, als ob er mich anschauen würde. Ich wage kaum zu atmen. Die Welt um mich herum verliert ihre Bedeu- tung. Ich sehe nur noch dieses kleine Geschöpf. Einen kurzen Augenblick sind wir ganz eins. Dann flattert er schon wieder weg. Ich aber bin froh, dass ich diesen Moment erleben durfte. Dankbarkeit erfüllt mein Herz. Ein kleines Wunder ist ge- schehen – wie ein wärmender Sonnenstrahl aus einem geöffneten Fenster des Himmels.
Ich mache mich auf den Weg. In einer halben Stunde werde ich das Val Roseg verlassen ha- ben. Dann werde ich zurückfahren in mei- nen Alltag. Aber eines möchte ich nicht ver- gessen: meine offene Hand und meine wache gespannte Aufmerksamkeit. Sie kann mir zum Fenster werden, um Gottes Nähe auch in meinem Leben wahrzunehmen.
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