Page 42 - Preschaint Nummer 6
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                Spuren in der Nachbarschaft  Heute ist wieder so eine Nacht. Der Mond steht gut, der Schnee ist nicht zu tief und die Nacht ist auch nicht zu kalt. Ideal, um meine verschiede- nen Äsungsplätze zu besuchen. Auf geht’s. Ich verlasse meinen vertrauten Einstand im Stazerwald, überquere vorsichtig, die von komi- schen, lärmenden und stinkenden Blechkisten befahrene Strasse und bin bald auf einer grossen Wiese. In der Ferne sehe ich die Lichter von Celerina. Dies ist das Ziel meines heutigen Spa- ziergangs. Ich werde wieder einmal schauen, wie jene Menschen wohnen, die versuchten, mich im Herbst mit einem gezielten Schuss in die ewigen Jagdgründe zu senden. Ich hatte ja unendliches Glück. Überall knallte es und die Kugeln flogen durch die Gegend, aber keine hatte mich getrof- fen. So bin ich, wie jedes Jahr im Winter, wieder hier unten, um mir mein karges Futter etwas aufzu- bessern. Da stehen überall auf hohen Pfosten kleine Häuschen, meistens nicht grösser als mein Äser. Aber dort finde ich immer etwas Feines. Bei den einen komme ich problemlos mit meiner grossen Zunge an die Goodies, die ich tagsüber mit den Vögeln teilen müsste. Aber in der Nacht werde ich von diesen Plagegeistern in Ruhe ge- lassen. Manchmal muss ich mit der Krone nach- helfen. Aber diese komischen Häuschen, so hab ich mir das über die Jahre zusammengereimt, sind wahrscheinlich auch nur für Vögel gemacht und nicht für den Herrscher des Waldes. So kann es halt passieren, dass meine Lust auf Futter grösser ist als die paar spitzigen kalten Dinger, die diese komischen Häuschen zusam- menhalten und ich hinterlasse neben meinen Spuren – Entschuldigung, aber es geht nicht immer anders – auch ein Wrack. Davon lasse ich mich aber kaum stören und ziehe weiter um die Häuser, bis ich nach einem kurzen Marsch vor der Grünablage stehe. Wie ich diese liebe! Da hat es so wunderbare Sachen zum Na- schen. So geniesse ich die Nacht in der Nachbar- schaft der Menschen, bis ich mich gegen Morgen wieder in meinen Einstand im Wald zurückziehe. Dort treffe ich dann wieder meine Freunde. Ein Rehlein, bekannt unter dem Namen Fin, erzählte mir einmal eine ganz besondere Geschichte: Nicht weit weg von seinem Einstand wohne eine ältere Frau. Zu ihr habe es ein ganz besonderes Verhältnis. Diese alte Dame füttere sie nämlich – verbotenerweise. So gibt es altes Brot aus der Hotellerie und Heu aus der Raufe beim alten Sta- del. Aber das Schönste sei, so erzählte mir das Rehlein Fin, dass diese Dame auch eine gute Or- ganistin sei. An Weihnachten spiele sie sogar für die Tiere des Waldes bei jeder Kälte und jedem Wetter bei offenem Fenster an ihrer Orgel. Die- ses Konzert sei das schönste Geschenk für die Tie- re des Waldes. Da beschloss ich, auf meine Besuche in Celerina zu verzichten und zur Dame des Waldes zu ge- hen, um zu sehen, ob die Geschichte wahr ist. Vielleicht kann ich sie ja dann meinen Kindern erzählen. 40 preschaint das Magazin 


































































































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