Page 40 - Preschaint - Nummer 3
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Die Ausstellungserzählung als Kreislauf des LebensZirbenduftgeschwängert schon vor den Glastüren trete ich ein und bin sofort mitten in der Erzählung – mit dem Anfang beginnend – Leben beginnt mit der Geburt, ein überwältigender Augenblick. Und wie beim Menschen die Hebamme dem Baby auf dem Weg ins Leben hilft, so ist der Tannenhäher bei der Zirbe, volksmundlich „Gratsch“ genannt, der Helfer, der für den Winter Depots aus Zirbennüssen anlegt. An den vergessenen Verstecken gedeihen im weichen und lockeren Boden kleine Sprösslinge. Da kann ich nur staunen über Gottes Schöpfung, die aus ein Zentimeter grossen und ein Gramm schweren Nüssen im Laufe von Jahrhunderten mächtige Bäume mit bis zu 25 Metern Höhe werden lässt, die viele Tonnen wiegen können.In der Kindheit wächst und gedeiht die Zirbe als Ver- wandte aller anderen Kiefernarten in den Alpen – vor allem im Wallis, Engadin, in den Ötz- und Zillertaler Alpen – und den Karpaten in Lagen zwischen 1’400 - 2’500 Meter ü. M. Verblüffend auch hier, wie anders als bei anderen Nadelhölzern jeweils fünf lange Nadeln an einem Kurztrieb ähnlich unseren Fingern an einer Hand wachsen, und den Silberglanz durch die Wachsstreifen auf der Nadelunterseite entstehen lassen.In der Jugend sucht sich der Baum mit einer senkrecht in die Erde wachsenden Hauptwurzel Halt und Nährstoffe, um dann mit starken Horizontalwurzeln gewissermassen in die Welt hinauszuwachsen, gleichsam wie auch wir zu- nächst in der Familie, im Dorf, in der Region beginnen, uns in der eigenen Heimat zu verwurzeln, bevor wir in die Welt hinausausschwirren. Gute Freunde – hier wie dort – sind nie allein, und so wächst die schattenverträglichere Zirbe oft nachbarschaftlich unter dem Schirm der licht- hungrigen Lärche heran.Eine Familie gründet der Baum mit 60 - 80 Jahren, wo er alle 6 - 10 Jahre zwischen Mai und Juli blüht und sich zu faustgrossen, rundlichen Zapfen als Zirbelnüsse aus den männlichen und weiblichen Blüten bis im September oder Oktober des Folgejahres ausbildet. Bei uns geht’s früher an die Familienplanung, aber wir haben ja auch nicht 400 - 1200 Jahre Zeit.Die Erlebnisausstellung „Die Zirbe – Grenzgängerin mit Talenten“ entführt die Besucher in die faszinierende Welt der Zirbe.Und auch im Alter sind die Parallelen zu uns Menschen prägnant auszumachen: aus der glatt und silbrig glän- zenden Rinde wird mit fortschreitendem Alter eine grau- braun, etwas warzig und rissige Haut. Und selbst die Na- deln – unseren Haaren gleich – fallen nach 6 - 8 Jahren von den Trieben ab. Man sieht uns wie dem Baum das Alter wohl zumeist im Gesicht an. Und es scheint mir, so wie auch wir Menschen unser Wissen weitergeben, als liesse sich die Geschichte der Alpen in den Jahresringen der Zirben nachlesen, variieren diese doch in ihrem Wachstum gerade wegen des unterschiedlichen Klimas.Vergleichende Beheimatung in offener IdentitätGrosse Höhe, eisige Kälte, Gefahr von Blitz und Lawinen, ungünstige Bodenverhältnisse – Umstände, die nicht ge- rade lebensförderlich zu sein scheinen – und doch ge- deiht und dient die Zirbe durch ihr Sosein als wunderbare Schöpfung Gottes und ist „ein Grenzgänger, der nicht anders als der Mensch das Machbare auslotet.“ Verblüf- fend gemeinsame, offene Identitäten jenseits aller Gren- zen, nachbarschaftlich zugewandt, beheimatet als Zirbe oder Arve – und uns, den Menschen, als „Krone der Schöpfung“ dieser „Königin der Alpen“ gegenüber. Sich als einheimisch zu empfinden, verbindet – verbindet Orte und Menschen mit Menschen und Orten. Mein Ausstel- lungsbesuch, der nachzuahmen sehr zu empfehlen ist, lässt mich lohnend darüber nachsinnieren, wie es in be- scheidener Weise gelingt, Heimat würdevoll inklusiv zu erfahren, wie am Beispiel dieses „Grenzgängers“ auch die in uns menschliche Individuen hineingelegten Talente jeweils mit Lust und Freude zu entdecken.38 preschaint das Magazin


































































































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