Page 30 - Preschaint Nummer 5
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 Zu Hause in zwei Kulturen
Aus dem Kinderzimmer kommt mir eine hochge- wachsene, schlanke, wunderschöne Frau entgegen. Ein wenig scheu begrüsst sie mich auf Deutsch. Nachdem sie mit ihrem Mann Christian Buchli vier Jahre zusammengearbeitet hatte, ist sie vor vier Jahren mit ihm und deren – damals – zwei Kindern ins Engadin gezogen. In eine ganz andere Welt, als jene, die sie bis anhin kannte. Denn Mary kommt aus einem kleinen Dorf in Kenia, Ostafrika.
Ob das Leben hier in der Schweiz anders sei, als sie es sich vorgestellt habe, frage ich Mary. Was für eine Frage, wird sie wohl gedacht haben, und antwortet bedächtig, aber klar: «Ja». Sie habe ihre Kindheit draussen unter den Bäumen verbracht, bei Spielen mit den Nachbarskindern, bei den Verwandten, auf der Veranda. Den ganzen Tag. Auch nach sechs Uhr abends, wenn es dunkel wird, so nahe am Äquator. Im Engadin sei es halt anders. Gerade im Winter.
Da könnten ihre Kinder oft erst nach 10 Uhr morgens raus. Das findet sie schade.
Mary Wangari Buchli ist im Hochland Kenias aufgewachsen. Inmitten von Verwandten allen Grades. Mit Nachbarn, die auch schon immer dort gelebt haben und deren Kindern und Kindeskindern. Das Klima hat es begünstigt, dass man sich draussen aufhält. Man trifft sich auf einen Schwatz, trinkt etwas zusammen, kocht zusammen. Die Frauen untereinander, die Männer untereinander. Und Christian erzählt, wie es für Mary am Anfang komisch gewesen sei,
Männer bei der Kinderbe-
treuung zu erleben. Ja, die Kulturen sind anders.
Die Familie lebt in Pontresina in einem Haus, in dem es auch andere Familien hat. Aber man «macht etwas ab» und geht nicht einfach vorbei. «Man plant». Das findet Mary noch heute gewöhnungsbedürftig, wenn auch nicht falsch. Einfach anders. So wie, dass sie im Januar schon die Einladung für eine Hochzeit im August erhalten haben. Unvorstellbar in Kenia. Da feiert man, wie die Feste fallen, sitzt zusammen, wenn jemand vorbeikommt. Und das ist eigentlich immer der Fall. Das Miteinander hat einen anderen Stellenwert. Wie auch die Kinder. Ob sie nicht ihre fünf Geschwister und ihre Eltern vermisst? Wieder so eine Frage, wird sie sich gedacht haben: «Nein, ich habe ja Facetime und Whatsapp. Ich telefoniere sicher einmal in der Woche mit meiner Familie, meinen Schwestern und mit meiner
Mutter», erklärt sie.
Um heimisch zu werden, hat sie in den vier Jahren, seit sie hier ist, die deutsche Sprache gelernt, gemeinsam mit den drei Kindern, Ueli (traditionsgemäss benannt nach dem Vater väterlicherseits), Mevion, der eigentlich Mugo heisst (traditionsgemäss benannt nach dem Vater mütterlicherseits) und Ursina (traditionsgemäss benannt nach der Mutter väterlicherseits). Die Sprache ist ihr Tor zur Gemeinschaft und Nach- barschaft. Jener Nachbarschaft, die unterschiedli- cher nicht sein könnte.
 























































































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