Page 44 - Preschaint Nummer 5
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                Versteckte Nachbarskinder
Als Kind italienischer Einwanderer wurde Vincenzo Todisco in Silvaplana eingeschult. In seinen Romanen beschäftigt er sich un- ter anderem mit Lebensgeschichten von Migrantinnen und Migranten – auch von sogenannten „Schrankkindern“. Heute lebt er in Rhäzüns.
Wie kamen Sie dazu, den Roman «Das Eidechsenkind» zu schreiben?
Bereits in den vorhergehenden Romanen «Der Bandoneonspieler» und «Rocco und Marittimo», beide in italienischer Originalsprache, habe ich mich mit der Thematik der Migration auseinandergesetzt. Mit «Das Eidechsenkind» schliesst sich eine Trilogie. Zwischen 2006 und 2010, als ich am zweiten Roman schrieb, hatte ich viele Unterhaltungen mit ehemaligen Gastarbeitern, und immer wieder wurde mir vom Schicksal der versteckten Kinder erzählt. Und dann wollte ich endlich einen Roman auf Deutsch, in meiner Parallelsprache, schrei- ben, damit die Kopfsprache Deutsch neben der Sprache Italienisch im Bauch Platz findet.
Wie dokumentarisch ist Ihre Erzählung?
«Das Eidechsenkind» ist eine fiktive Geschichte, und da ich sie in einen Roman verpackt habe, ist sie auch literarisch zugespitzt. Aber die versteckten Kinder hat es tatsächlich gegeben. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als in der Schweiz das Saisonnierstatut galt, war der Familiennachzug nicht erlaubt. Aber, wie schon Max Frisch gesagt hat, «wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen». Viele Saisonniers hielten den Aufenthalt im Gastland ohne ihre Ehefrauen und Kinder nicht aus, oder sie hatten keine Möglichkeit, die Kinder fremdzuplatzieren. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie illegal in die Schweiz zu holen und sie in den Wohnungen versteckt zu halten. Man rechnet, dass über zehntausend Kinder damals versteckt lebten. Es ist eine geschicht- liche Tatsache, die unter anderem von Marina Frigerio in ihrem Buch «Verbo- tene Kinder» (2014) aufgearbeitet wurde. Im selben Jahr wurde das Thema im Zischtigsklub von DRS breit diskutiert. Ich hatte aber auch die Gelegenheit, mich während meiner Recherchearbeit mit Augenzeugen und Betroffenen zu unterhalten.
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