Page 45 - Preschaint Nummer 5
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                Spielen auch autobiografische Bezüge hinein?
Ich bin nicht als Eidechsenkind aufgewachsen, sondern ganz normal und unbe- schwert als Sohn italienischer Einwanderer, die bereits eine Niederlassungs- bewilligung hatten. Mein Vater stammte aus einer Gastgeberfamilie in Südita- lien. Die Engadiner Hotels mit ihrer langjährigen Tradition waren für einen talentierten Kellner der ideale Ort, um sich beruflich zu verwirklichen. Er hatte sich bis zum Chef de Service und Chef de Rang hochgearbeitet. Meine Integra- tion hat perfekt geklappt. Ich habe ganz früh die Sprache gelernt und wurde in jungen Jahren eingebürgert. Damals hatte ich keinen Kontakt zu versteck- ten Kindern. Erst viel später wurde mir davon erzählt, und ich lernte dann auch Leute kennen, die dieses Schicksal erlebt haben. Diesbezüglich herrschte eine klare omertà. Niemand wollte darüber sprechen, viele Eltern schämten sich oder haben es verdrängt. Dasselbe gilt für die Betroffenen. Viele von ihnen haben aus Selbstschutz die schlimmen Erlebnisse aus ihrem Gedächtnis zu löschen versucht.
Sie nennen sie «Eidechsenkinder» ...
«Eidechsenkind» ist eine literarische Erfindung. In meinem Roman ist es Nonna Assunta, die Grossmutter, die dem Kind diesen Spitznamen gibt. Sie beobach- tet, wie das Kind aufgrund des Eingesperrtseins tierische Züge annimmt und sich wie eine Eidechse bewegt. Man muss sich das einmal vorstellen: Klingelte es an der Tür, mussten sich die Kinder verstecken, sie durften weder draussen spielen noch zur Schule gehen. In ständiger Angst vor Ausweisung lebten sie isoliert und versteckt in den Wohnungen. Wenn man das Buch von Marina Frigerio liest, wenn man mit Betroffenen spricht oder wenn man sich Inter- views anhört, dann merkt man sehr schnell, dass das Verstecktsein für die meis- ten ein traumatisches Erlebnis gewesen ist. So ergeht es auch dem Kind in meinem Roman. Das natürlichste, das ein Kind machen will und muss, ist sich frei zu bewegen, laut zu sein, unbeschwert zu leben! Wie mir erzählt wurde, gab es seitens der einheimischen Bevölkerung auch viel Solidarität. Viele wuss- ten von diesen Kindern, aber sie denunzierten sie nicht. Das ist die schöne Seite der Geschichte, denn sie zeigt, dass die Menschlichkeit über den gelten- den Gesetzen stand.
preschaint das Magazin 43






























































































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