Page 48 - Preschaint Nummer 8
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                 Ich wache, damit andere ruhen können  Ich heisse Andreas und bin verheiratet mit der Katharina. Wir haben eine Toch- ter, eine Kuh und fünf Hühner und ein Feld, wo wir Kohl und ein wenig Wei- zen anbauen. Wir leben in einem etwas heruntergekommenen, dunklen Holz- haus, ein wenig ausserhalb des Dorfes. Seit jeher bin ich der Nachtwächter hier. Ich habe die Arbeit von meinem Vater übernommen, der auch Andreas hiess, aber starb, als ich erst 14 Jahre alt war. Ich ziehe regelmässig durch die Nacht, um die Stunde anzugeben, aber vor al- lem, um zu wachen. Nichts Schlimmeres als ein Feuer, das das ganze Dorf dem Boden gleichmachen würde, das Vieh der Bau- ern wegnehmen würde oder Plünderer und Ärgermacher. Wie am 6. Oktober zum Beispiel. Da griffen Männer mit vermumm- ten Gesichtern aus dem Nachbardorf mitten in der Nacht an. Es ging um Ehrverteidigung. Ein schon lange schwelender Konflikt zwischen unseren Dörfern. Ich sprang auf, als ich den Jacob hör- te, seinen Meister, den Richter Müller, um Hilfe zu rufen. Als ich beim Stall war, sah ich, wie der Müller seinen Knecht und zwei Übrige vor Misshandlungen rettete. Als ich die Ärgermachenden mit ihren verbundenen Gesichtern auf der Gasse angetroffen hatte, hatte ich von einem das Gesicht entdeckt. Es war der Matheus. Alle Involvierten mussten gemäss des Entscheides der Kanzlei fünf Floren zahlen. Was nichts ist, wenn man bedenkt, dass Jahre zuvor ein Dieb zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Der Landvogt milderte in letzter Minute das Urteil in eine Enthauptung. Im Winter drehe ich von abends sechs Uhr bis morgens sieben Uhr meine Runden. Im Sommer bin ich weniger lang unterwegs, da die Tage länger sind und die Nächte kürzer. Am Tag schlafe ich und helfe meiner Frau auf dem Feld oder mit der Kuh. Ich mag meine Arbeit in der Nacht. Auch wenn sie mitunter unangenehm ist. Aber meine Arbeit ist wichtig. Ich wache, damit alle schlafen können. Ich wache, damit andere ruhen können. Höret, was ich euch will sagen! Die Glock’ hat Zehn geschlagen. Jetzt bet’ und schlaf, das ist mein Rat, Und wer ein gutes Gewissen hat, Schlaf’ sanft und wohl! Im Himmel wacht Ein heiter Aug’ die ganze Nacht. Höret, was ich will sagen! Die Glock’ hat Zwölf geschlagen. Und wo noch in der Mitternacht Ein Herz in Schmerz und Kummer wacht, Gott geb’ ihm Ruh’ zu dieser Stund’ Und mach’ es fröhlich und gesund. Höret, was ich euch will sagen! Die Glock’ hat Zwei geschlagen. Und wem schon wieder, eh’s noch tagt, Die schwere Sorg’ am Herzen nagt: Du armer Tropf, so quäl dich nicht. Gott sorgt. Er weiss, was dir gebricht. Höret, was ich euch will sagen! Die Glock’ hat Drei geschlagen. Die Morgenstund’ am Himmel schwebt, Und wer den Tag in Freud’ erlebt, Dank’ Gott und frohen Mut! Geh’ ans Geschäft – und halt’ dich gut. aus: Johan Peter Hebel: Hebel’s Schatzkästlein. Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. 46 preschaint das Magazin 


































































































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