Page 49 - Preschaint Nummer 8
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                   Wagemutig der Sonne entgegen   Er sei auch ein Randulin, wenn auch ein moderner, meint Duri Saratz, der vor einem übergrossen Blatt sitzt. Es ist sein Stammbaum, der weit in das 18. Jahr- hundert reicht und Leonhard Jenny als den Urvater zeigt. Den Vater von Konditor und Zucker- bäcker Johann Leonhard Jenny in Warschau, Wilna und Smolensk. Ein richtiger Randulin. Duri Saratz hat sein Arbeitsleben «nur» im Unterland verbracht. Für jede Talschaft Graubündens war die Auswande- rung in der Zeit vom 16. bis ins 19. Jahrhundert eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Durch Missernten, Epi- demien und Überbevölkerung wurde die periodische und saisonale Auswanderung verstärkt. In jeder Regi- on hat sich die Auswanderung spezifisch entwickelt. Stand im Bündner Oberland und in den Gebieten Mit- telbündens der Solddienst an erster Stelle, so wander- ten im Misox und im Calancatal viele Baumeister und Stuckateure aus. Im Engadin, Puschlav, Bergell, Müns- tertal sowie im Albulatal fand die Migration von Zu- ckerbäckern und Cafétiers statt. Doch bereits im 12. Jahrhundert wanderten Bündner, wie J.A. Sprecher in seiner «Geschichte der Republik der Drei Bünde» berichtet, nach Venedig aus. Einwan- derungen fanden in der Folge vor allem nach grösse- ren Pestepidemien statt, so in den Jahren 1348, 1383, 1407 und 1460. Unter den Bündnerischen Emigranten befanden sich zahlreiche Brotbäcker, die sich in der Fremde dann vielfach auf die Zuckerbäckerei speziali- sierten. Die Randulins waren also keine Erfindung der neueren Zeit. Wieso sein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Grossvater den weiten Weg nach Polen unter die Füsse nahm, weiss auch Saratz nicht. Und unter die Füsse nehmen ist in diesem Zu- sammenhang wörtlich zu nehmen. «Es gibt Korres- pondenzen von Peter Jenny, in der er seiner Frau die genaue Reiseroute mit den günstigsten Unterkünften mitteilte», erklärt Saratz. Denn Peters Frau Anna Meis- ser war für die Rekrutierung der Lehrlinge zuständig, die sie nach den genauen Vorgaben ihres Mannes im Engadin aussuchte. Wie viele andere auch, blieb die Frau mit Kind und Kegel in der Heimatbasis Engadin. Es waren wagemutige Männer und Frauen, die dieses Leben lebten; die in die fernen, unbekannten Länder gingen. Sicher ist, dass die Auswanderungsziele der Randulins die aufstrebenden Städte Europäisch-Russlands waren: Warschau, Wilna, Riga, St. Petersburg, Helsinki, Mos- kau, Kiew, Odessa. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war nämlich das Zuckerbäckergewerbe in Russland praktisch noch unbekannt. Und die Engadiner hatten in Venedig die Kunst der Zuckerbäckerei gelernt. Das Engadin war immer wieder der Mittelpunkt des Aus- tausches, sei es über aufstrebende Märkte oder Rezep- te. Saratz ist überzeugt, dass diese welterfahrenen Männer mit ihren Erfahrungen im Dienstleistungssek- tor schlussendlich das Engadin hervorragend für den aufkommenden Tourismus im 19. Jahrhundert vorbe- reitet haben. Schliesslich war Peter J. Jenny – der Ur-Ur-Ur-Grossva- ter von Duri Saratz – als Zuckerbäcker in verschiedenen Städten in Osteuropa tätig und besass nicht nur ein Café in Warschau und Stettin (dann Preussen), son- dern mit der Zeit auch eines in Smolensk (Russland). Als Napoleon 1812 die Stadt niederbrannte, verlor die Familie diese Niederlassung. Seine Tochter Anna (ge- boren 1824 in Pontresina) war jene Vorfahrin, die 1845 in Pontresina einen Saratz heiratete. Ihr Bruder Eduard Jenny ist 1826 in Pontresina geboren und war 16 Jahre alt, als er bei der Familien-Konditorei «Gebrüder Jen- ny» in Stettin seine Lehre begann. Um 1850 übernahm Eduard mit seinem älteren Bruder Peter Alexander die Konditorei des Vaters an der Oderstrasse 12 in Stettin. Das Elternhaus von Duri Saratz, das «gelbe Haus», steht stolz mitten im Pontresiner Dorfteil Laret. Über der Eingangstüre ist die Jahreszahl 1812 zu lesen. Zu Recht sagte Eugen Baron von Vaerst, der spätere Herausgeber der «Breslauer Zeitung», um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts: «Die vorzüglichsten Zuckerbäcker auf der ganzen Erde, die man auch in allen grossen Städten inner- und ausserhalb Europas findet, kommen aus Graubünden. Dort haben die Leu- te, die wir von Mexiko bis Petersburg in grauen Jacken und weissen Schürzen sehen, grosse Steinpaläste.» NZZ, Dolf Kaiser, Zuckerbäcker, Cafetiers und Handelsleute in der Fremde Uni Zürich, Süsse Botschaft aus Graubünden, Roman Bühler      preschaint das Magazin 47 


































































































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